15. Mai 2020
Der Landeselternausschuss fordert, das Notengebungsverfahren für die Mittelstufenschüler auch für die Schüler der gymnasialen Oberstufe anzuwenden. Niemand soll sich verschlechtern können. Das ist eine freundliche Geste, die jedoch nicht den Kern des Problems trifft. Denn statt um das Lernen geht es um Bewerten – eine vertane Chance.
Die Eltern wollen folgende Regelung auf die Oberstufe ausweiten:
Die
beim Lernen zu Hause erbrachten Leistungen der Schülerinnen und Schüler
können als Hausaufgaben oder als schriftliche Teile von Projektarbeiten
gewertet werden. … Hinsichtlich der Leistungsbewertung muss der
Grundsatz gelten, dass sich Kinder durch die Bewertung der beim Lernen
zu Hause erbrachten Leistungen gegenüber dem ersten Halbjahr 2019/2020
nur verbessern und keinesfalls verschlechtern dürfen.
So hatte es die Senatsverwaltung für Bildung am 23. April in einem Schreiben an die Schulen formuliert.
Nur eine Woche zuvor hatte die Behörde die Weichen dafür gestellt, dass Noten in diesem (und den folgenden) Schulhalbjahren überhaupt eine Rolle spielen. Eigentlich hätten gesetzliche Regelungen die Vergabe von Zeugnissen in diesem Schuljahr verboten. In den Verordnungen für die Sekundarstufen 1 und 2 sowie in der Grundschulverordnung heißt es wortgleich: Eine Zeugnisnote wird gebildet, „wenn eine Schülerin oder ein Schüler je Schulhalbjahr mindestens sechs Wochen kontinuierlich oder insgesamt mindestens acht Wochen am Unterricht teilgenommen hat.“
Weil zwischen dem Start des Schulhalbjahres am 10. Februar und dem Tag der Schulschließung am 18. März nur 5 Wochen und 2 Tage lagen, hätte es also am Schuljahresende für kein Kind ein Zeugnis geben dürfen. Die Bildungsverwaltung kassierte diese Regelung weitgehend unbeachtet in den Osterferien – zu einer Zeit, als andere Bundesländer bereits beschlossen hatten, die Notengebung auszusetzen. Eine Öffnung der Schulen war da zwar noch nicht in Sicht, aber die Notengebung gesichert.
Ebenfalls nicht in Sicht war ein Ende des Homeschoolings. Wie wir heute wissen, ist die Qualität des Fernunterrichts sehr unterschiedlich, insgesamt läuft es mehr schlecht als recht. Bisher zu diesem Thema veröffentlichte Studien bestätigen Vorahnungen oder gefühltes Wissen: manchen Schülern, meist aus finanziell armen Familien, fehlen die technischen Voraussetzungen. Schüler und Eltern aus gut ausgestatteten Haushalten beklagen teilweise fehlendes Engagement der Lehrer, die digitalen Möglichkeiten des Fernunterrichts werden nicht ausgeschöpft.
Eltern und Kinder diskutieren über Leistungsbewertungen, weil die Senatsverwaltung ohne Plan und ohne Not ihre gesetzliche Regelung einer neuen Situation „angepasst“ hat. Offenbar konnte sich niemand vorstellen, dass es auch ohne Noten gehen könnte.
In einem System, in dem Noten und Zeugnisse wichtig sind, sind auch Abschlussprüfungen von enormer Bedeutung. Und auch hier hat sich Berlin im Blindflug in eine Situation manövriert, die den weiterführenden Schulen jetzt auf die Füße fällt – ihnen fehlt schlicht die Zeit für die Erarbeitung, Einführung und Erprobung neuer Konzepte für einen erfolgreichen Fernunterricht. Denn ein „Zurück in die Normalität“, so viel ist schon jetzt sicher, wird es in diesem Jahr nicht geben.
Die Schleswig-Holsteinische Bildungsministerin Karin Prien hatte diese prekäre Situation vorausgesehen. Die CDU-Politikerin machte sich schon sehr bald nach Schließung der Schulen für die Absage der Prüfungen für das Abitur und den mittleren Schulabschluss stark, vor allem wegen der fehlenden Gerechtigkeit bei der Prüfungsvorbereitung. Wie einige andere Vorschläge von Bildungsministerinnen während der Schulschließungen wurde auch dieser viel diskutierte Vorschlag quasi Sekunden später von den jeweiligen Ministerpräsidenten einkassiert.
Von Berlins Bildungssenatorin, in einer Stadt mit einem mit rund 30 Prozent hohem Anteil an Kindern aus armen Familien, kam so ein starkes Signal nicht. Sandra Scheeres fehlte auch in einem anderen Punkt die Weitsicht, im Gegensatz zu ihrer Amtskollegin in Kiel:
Im Norden beginnen, wie auch in Berlin, die Sommerferien sehr früh, Ende Juni. Für die Schulen heißt das: In 30 Schultagen von den Oster- bis zu den Sommerferien müssen an 20 Tagen Klausuren geschrieben und Präsentationen abgenommen werden. Zwischendurch wird – irgendwie – Präsenzunterricht für einen Teil der anderen Schüler angeboten. Der Verzicht auf die schriftlichen MSA-Prüfungen brachten ein wenig Entspannung. Doch mehr als Luftholen ist zwischen Hygieneregeln und Schulorganisation unter Pandemiebedingungen nicht drin. Ein kollektives tiefes Nachdenken rund um digitale Bildung mit allem was dazugehört – Fortbildung, Beratung, Kommunikation, Zusammenarbeit, Devices, Plattformen, WLan, Netzverbindung… - kann also erst nach den Sommerferien beginnen.
Gymnasialschulleiter
setzen sich aktuell dafür ein, das Schuljahr um ein halbes Jahr zu
verlängern. Auch für den Landeselternausschuss ist das eine Option –
jedenfalls fordert er von der Bildungsverwaltung dies zu prüfen und
„unverzüglich ein schlüssiges Konzept für das Nachholen des nicht
erteilten Präsenzunterrichts zu entwickeln“.
Die Elternvertretung
wünscht die Vermittlung von „Stoff“, der „prüfungsrelevant unterrichtet“
werden soll. Mit Blick auf das Abitur sollen Unterrichtsinhalte der Q
2, also des zweiten Semesters der insgesamt zweijährigen Abiturphase,
nicht in den Abschlussprüfungen 2021 geprüft werden.
Das vor wenigen Tagen veröffentlichte „MINT Nachwuchsbarometer“ legte mit Blick auf die naturwissenschaftlichen Fächer eine Wunde der gymnasialen Bildung offen: Die Datenlage zu Leistungen der Oberstufenschüler sei schwach, was mit der Zurückhaltung der KMK bei der Genehmigung von Schulleistungsstudien zusammenhänge. Einzelne Studien seit Mitte der 90er Jahre zeigten jedoch, „dass zwei Drittel der Abiturientinnen und Abiturienten den Unterrichtsstoff der Oberstufe nicht einmal ansatzweise beherrschten“.
Der Befund ist wirklich besorgniserregend, und müsste in der momentanen Krise eigentlich zu der Frage führen, wie Schüler mit einer veränderten Art des Lernens bessere Leistungen erzielen.
Lehrerinnen und Lehrer erfinden ihre Profession gerade neu. Begleitung, Motivation, Feedback, Vermittlung, Erklären, Diskutieren – alles ist anders. Manch einer wundert sich, dass Kinder arbeiten, ohne dass es Noten gibt oder ein Test ansteht.
Schüler und Lehrer vermissen das gemeinsame Arbeiten im Klassenraum. Gleichzeitig klappt vieles immer besser, und für gelungenen Unterricht in der Distanz gibt es schon gute Ideen und Konzepte, die angeschaut und getestet werden wollen.
Ermutigung und Unterstützung ist das Gebot der Stunde. Nötig wären aber auch zwei Dinge, die eher auf Ablehnung stoßen werden. Erstens: Das Monitoring muss extrem ausgeweitet werden. Landesweite Vergleichstests in allen Fächern, in Zeiten des Fernunterrichts zwei Mal pro Schuljahr. Schüler sollten die Aufgaben möglichst online bearbeiten. Kein Papierkram, keine Korrekturen durch unterrichtende Lehrkräfte, dafür aussagekräftige Rückmeldung für Schüler und Lehrer. Dazu müssen weitere Studien zum Unterrichtsgeschehen in den Abiturklassen kommen.
Zweitens: Corona ist ein Arschloch. Die zweite Welle wird uns im Herbst treffen, wenn die Urlauber aus Malle, von der Nordsee und aus den Berliner Freibädern zurück sind. Pünktlich zu Beginn des neuen Schuljahres. Wenn das nicht aufgrund der fehlenden Vorbereitungszeit genauso ruckelig anfangen soll wie das letzte aufgehört hat, müssen schulinterne Fortbildungen in den Sommerferien stattfinden. Eine Woche mindestens, das ganze Kollegium.
Noten und Zeugnisse sind in diesen Zeiten nicht zu rechtfertigen. Dafür sind die Unterschiede in den technischen Voraussetzungen, den häuslichen Bedingungen und der Existenz von unterstützenden Eltern, Geschwistern oder Nachhilfelehrern zu groß. Über den mittleren Schulabschluss und das Abitur 2021 muss man schon jetzt nachdenken, auch gemeinsam mit den Schülern, den Hochschulen und Ausbildungsbetrieben. Auch der Übergang in die Oberschulen nach Klasse 6 muss reformiert werden, vielleicht könnte zeitweise die alte BVG-Regel wieder gelten.
Die Bildungsverwaltung ist sehr damit beschäftigt, ein starres Korsett aufrechtzuerhalten, das den Schulen jetzt die Luft zum Durchatmen nimmt. Alte Regeln werden „angepasst“, so etwas wie ein „Masterplan Homeschooling“ fehlt bezeichnenderweise. Generalstabsmäßig wird Hygiene über alles gestellt, die pädagogische Atmosphäre leidet. Statt tatsächlich den Schulen Freiheiten zu lassen wie sie die schrittweise Öffnung organisieren und welche Schüler zuerst in die Schulen kommen sollen, werden Klassenstufen vorgegeben.
Noch nie war die Gelegenheit so nah, Schule komplett neu zu denken. Ort, Fächer, Inhalte – alles ist verhandelbar. Manches wartet schon seit Jahrzehnten auf Modernisierung: fächerübergreifendes Unterrichten, Feedbackkultur, Differenzierung. Die Forderung nach „Entrümpelung“ der Lehrpläne hat schon einen Bart – jetzt wäre ein Anlass, damit anzufangen. Brandaktuell stellen sich Fragen nach Motivation durch herausfordernde Aufgaben (statt Druck und Noten) und nach dem menschlichen Miteinander.
Schulen müssen sich jetzt entwickeln. Dafür braucht es einen klaren Rahmen, ausreichend Zeit und ein wenig Vertrauen. Es eilt ein wenig. Möglicherweise gibt es schon 2022 einen Corona-Impfstoff. Bis dahin sollte so viel wie möglich auf den Kopf gestellt sein.
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