16. Jun 2022
Soziale Angststörung bei Kindern: Wann Schüchternheit zum Problem wird und wie Eltern und Kinder Hilfe finden können.
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Julia Asbrand, Mara Calderaro und Nadine Vietmeier; Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie und -psychotherapie der Humboldt-Universität Berlin
Der 14-jährigePaul geht seit seinem Schulwechsel nicht mehr gerne in die Schule. Er war schon immer ein guter Schüler. Allerdings traut er sich vor den neuen Mitschülerinnen und Mitschülern nicht mehr, sich im Unterricht zu melden. Er hat Angst, etwas Falsches zu sagen und ausgelacht zu werden. In seiner Freizeit trifft er sich kaum mit anderen Kindern. Er macht sich Sorgen, dass die anderen ihn langweilig finden. Selbst als Paul auf eine Geburtstagsfeier eingeladen wurde, wollte er nicht hingehen. Wenn seine Eltern mit ihm über seine Ängste sprechen wollen, reagiert Paul nervös, bekommt schwitzige Hände und zieht sich zurück.
Schüchternheit ist ein Persönlichkeitsmerkmal. Manche Kinder haben von Geburt an ein ruhigeres Temperament als andere. In bestimmten Übergangsphasen im Leben ist es auch normal, wenn Kinder zunächst zurückhaltend reagieren: Sie müssen sich dann beispielsweise zunächst an den Start in der Kita, die Einschulung oder den Wechsel auf eine weiterführende Schule gewöhnen.
Eine Schüchternheit, die zum Kind „dazu gehört“, unterscheidet die Psychologie jedoch von einer „sozialen Angststörung“. Die soziale Angststörung gehört zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Betroffene Kinder und Jugendliche haben große Angst, sich vor anderen zu blamieren, von anderen ausgelacht oder negativ beurteilt zu werden. Dadurch vermeiden sie viele soziale Situationen oder ertragen sie nur mit großem Unbehagen. Sozial ängstliche Kinder werden nervös oder sogar panisch bei dem Gedanken, mit einer unbekannten Person zu sprechen. Es plagen sie negative Gedanken wie „Das schaffe ich nicht!“ oder „Ich bin nicht fähig genug!“. Dieser Stress macht sich bei den Kindern auch körperlich bemerkbar, zum Beispiel in erhöhtem Herzschlag, übermäßigem Schwitzen, Zittern oder dem Gefühl, erbrechen zu müssen. Manche Kinder bekommen Bauchweh vor der Schule.
Als Folge der Ängste sind Betroffene häufig unzufrieden, ziehen sich zurück oder haben Schwierigkeiten, den Alltag zu bewältigen. Dadurch können sie stark in ihren Lebensentscheidungen und auch in ihrer Entwicklung eingeschränkt werden. Sozial ängstliche Kinder können beispielsweise ihr Wissen in der Schule nicht zeigen, weil sie sich nicht am Unterricht beteiligen. Jugendliche wählen lieber einen Ausbildungsberuf, in dem sie möglichst wenig Kontakt mit anderen Menschen haben oder trinken Alkohol, um für Gespräche mit anderen „lockerer“ zu werden. Durch die Belastungen können sich weitere psychische Erkrankungen wie depressive Störungen oder Abhängigkeitserkrankungen entwickeln.
Im Gegensatz zur angeborenen Schüchternheit ist die soziale Angststörung gut behandelbar. Insbesondere wenn die sozialen Ängste ein Ausmaß erreichen, dass sie häufig und intensiv erlebt werden und den Alltag einschränken, kann es hilfreich sein, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie kann betroffenen Kindern helfen, einen Umgang mit ihren Ängsten zu finden. Mit der sogenannten kognitiv-behavioralen Therapie werden Verhaltensweisen und Gedanken erlernt, die Ängste reduzieren sollen.
Um ängstliche Kinder nicht zu überfordern, sollten Bezugspersonen ihre Kinder in kleinen Schritten unterstützen. Die beste Unterstützung besteht darin, dem Kind Akzeptanz und Zuversicht zu vermitteln: Die Erwachsenen akzeptieren, dass bestimmte Situationen für das Kind schwer sind - auch wenn sie selbst die Ängste nicht nachvollziehen können. Sie können dem ängstlichen Kind zum Beispiel sagen: „Ich verstehe, dass die Situation schwer für dich ist...“. Gleichzeitig unterstützen die Bezugspersonen, indem sie dem Kind gegenüber zuversichtlich sind: „…und ich weiß, dass du das trotzdem schaffen wirst.“ Zuversicht stärkt das Selbstvertrauen des Kindes und vermittelt das Gefühl, dass die Angst zu bewältigen ist.
Im nächsten Schritt hilft es, sich der Angst oder schwierigen Situationen zu stellen. Man kann das Kind fragen, welche Dinge oder Situationen es austesten möchte. Dabei ist nicht der Erfolg entscheidend - sondern dass das Kind den Mut gesammelt hat, sich in die Situation zu wagen. Man kann das Kind dann zum Beispiel mit den Worten loben: „Ich finde super, dass du das ausprobiert hast! Das war mutig von dir.“
Eltern und andere Vertrauenspersonen können ein Kind auch aktiv unterstützen, neue Erfahrungen zu machen. In Sport- und Musikkursen können Kinder mit erwachsenen Begleitpersonen teilnehmen. Das kann helfen, sich in einer unbekannten Gruppe zurechtzufinden.
Freundschaften mit Gleichaltrigen können oft leichter in einer vertrauten Umgebung mit wenigen Kindern geschlossen werden als in fremder Umgebung mit vielen Kindern. Den Betroffenen fällt es möglicherweise leichter, sich mit nur einem anderen Kind auf dem Spielplatz nebenan zu treffen, als mit allen Kindern der Jahrgangsstufe auf dem neuen Schulhof. Zudem kann es helfen, Begegnungen im geschützten Rahmen wie dem eigenen Zuhause zu ermöglichen.
Man sollte Kinder niemals in für sie schwierige Situationen bringen, ohne die Situation vorher mit dem Kind besprochen zu haben. Das könnte das Kind überfordern und es könnte daraufhin mit noch größerer Angst reagieren. Stattdessen sollten Bezugspersonen immer wieder ermutigen, ohne zu überfordern oder zu viel Druck aufzubauen. Dabei sollte Optimismus und Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes ausgestrahlt werden. Man sollte Kinder ermutigen und auf Fortschritte aufmerksam machen - auch wenn sie noch so klein sind.
Bei Verdacht auf eine soziale Angststörung können sich Eltern und Erziehungsberechtigte zunächst an die Kinderärztin oder den Kinderarzt wenden. Ist eine weitere Abklärung sinnvoll, findet diese in der Regel in einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychotherapie statt. Eine Übersicht der Kinder- und Jugendpsychotherapeuten in Berlin bieten die Internetseiten der Stadt Berlin. Über den Patientenservice der Kassenärztlichen Vereinigung (Telefonnummer 116 117) lassen sich direkt freie Termine einsehen und buchen.
Zudem können sich die Erziehungsberechtigten an ihre Krankenkasse wenden, um einen Termin bei einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin zu vereinbaren. Außerdem besteht seit Juni 2021 in der Hochschulambulanz der HU Berlin eine Spezialambulanz für Kinder, Jugendliche und Familien. In dieser werden schwerpunktmäßig Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen von 0 bis 21 Jahren behandelt. Unter bestimmten Voraussetzungen haben 9- bis 14-Jährige mit starken sozialen Ängsten aktuell die Möglichkeit, ohne lange Wartezeit an einer Gruppenpsychotherapie teilzunehmen. Die Kosten hierfür werden von der Krankenkasse getragen.
In der Abteilung Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie der Humboldt-Universität zu Berlin werden unter der Leitung von Professorin Julia Asbrand soziale Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen untersucht, um die Erkrankung besser zu verstehen und Behandlungen zu verbessern. Aktuell werden noch Teilnehmerinnen und Teilnehmer für die Studie „Gedankenkarussell“ gesucht. Teilnehmen können Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 14 Jahren, die entweder starke soziale Ängste haben oder (als Kontrollgruppe) keine psychischen Auffälligkeiten aufweisen.
Im
Rahmen der Studie findet eine ausführliche und kostenlose Diagnostik statt.
Anschließend werden teilnehmende Kinder und Jugendliche mit einem Elternteil
für zwei weitere Termine an das Institut für Psychologie am Standort Adlershof
eingeladen und können dadurch die Forschung der Abteilung unterstützen. Bei
Teilnahme an der gesamten Studie erhalten Familien eine Aufwandsentschädigung
von insgesamt 100 Euro. Ausführliche Informationen zur Studie stehen auf der Homepage der Abteilung. Fragen und Anmeldungen zur Studie
können per Email an kinderprojekte.psy@hu-berlin.de gesendet werden.
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