Mütter in der Kinderliteratur: Erstaunlich oft sind sie abwesend. Weibliche Erziehende sind häufig auch Ersatz-Mamas, Tanten oder Stiefmütter. Aufregende Dinge erleben sie, wenn überhaupt, außerhalb ihrer Rolle als Mama. Schulbibliothekarin Diana Johanns empfiehlt drei lustige und warmherzige Kinderbücher, in denen die Protagonistinnen erst noch in ihre Mutterrolle hineinwachsen müssen.
Pippi Langstrumpf. Oliver Twist. Momo. Jim Knopf. Mowgli. Harry Potter. Heidi. Timm Thaler. Tom Sawyer. Sein Freund Huckleberry Finn. Violet, Klaus und Sunny Baudelaire. Fällt Ihnen etwas auf? Hm? Richtig! Alles berühmte Kinderbuchhelden - und alle sind Waisen.
In der Kinderliteratur wimmelt es von Waisenkindern, denn eine mutterlose Existenz gestattet ein ausbaufähiges Ausgangsmodell, das eine Vielzahl von Erfahrungen, Niederlagen und Abenteuern ermöglicht. Da stellt sich die Frage nach dem Mutterersatz (Wolf, Stiefmutter oder Witwe Douglas), nach den Folgen des fehlenden Mutterschutzes (Armenhaus, Paketversand oder Besenkammer) und den Möglichkeiten, welche durch die Abwesenheit jeglicher Mutterfiguren begünstigt werden (Süßigkeiten, unseriöse Geschäfte und Dschungelabenteuer). Es gibt wenige Mütter in der Kinderliteratur, die aufregende Dinge erleben, und wenn sie es tun, dann außer Haus und nicht in ihrer Rolle als Mama. Klassische Kinderbuchmütter kochen, decken den Tisch und räumen ihn wieder ab, küssen die Stirn, lesen vor, mahnen und schelten mit Bedacht und stehen damit für Fürsorge, Schutz und Geborgenheit des Kindes. Mütter nutzen dem eigentlichen Handlungsverlauf nur, wenn sie wie Mrs Brown einen sprechenden Bären vom Bahnhof Paddington einsammeln, oder sich wie Lovis die Mattisburg mit einer ganzen Räuberbande teilen oder wie Mrs Banks ein Kindermädchen namens Mary Poppins einstellen.
Warum ist das so? Ist es denn wirklich unmöglich, Drachen zu töten oder Monsterraketen zu steuern und gleichzeitig die Hausaufgaben zu kontrollieren und Zöpfe zu flechten? Natürlich könnte JEDE Mutter alles und alles gleichzeitig, aber der kindliche Leser hat häufig einen konservativen Geschmack und weiß zudem aus Erfahrung, dass Multitasking nicht funktioniert. Also – entweder Drachen töten oder Küsschen verteilen. Und daher gilt: lieber Küsschen, lass den Drachen laufen.
Erfolgreiche Geschichten für Kinder funktionieren wie ein Kasperletheater mit Standardfiguren, deren stereotypisches Verhalten durch die Taten der Hauptfigur durchbrochen wird. Die Abwesenheit der Mutterfigur bedeutet ein vogelfreies Kind, wird die Mutterrolle nicht durch jemand Anderen (Almöhi, Tante Polly oder Frau Waas) eingenommen, ist es ein schutzloses Kind in einer erwachsenen, oft gegnerischen Welt (Momo, Harry Potter, Oliver Twist).
Daher: Findet sich am Anfang der Geschichte eine umarmende, backende, tröstende oder pflasterklebende Mutter, weiß auch der Leser sich in sicherer Hut. Mütter haben diese Wirkung.
In die Mutterrolle erst hineinwachsen müssen die Protagonistinnen der folgenden drei Bücher.
Beginnen wir mit Berti Bartolotti aus dem Kinderbuchklassiker:
Im Kinderbuchklassiker von Christine Nöstlinger ist Frau Bartolotti Single in den besten Jahren: selbstständige Teppichweberin, schminkt sich gern und ausgiebig, kleidet sich auffallend-ausfallend und raucht Zigarren. Sie führt mit dem sehr seriösen Apotheker Egon ein Zweimal-die-Woche-gehen-wir-aus-Verhältnis und hat eine ausgeprägte Schwäche für Coupons, Angebote und Bestellscheine, die sie stets flugs aus den Zeitschriften reißt und jeglichen Tinnef, Tand und Nippes bestellt, der angeboten, aber eigentlich nicht benötigt wird. Bei all diesen kopflosen Bestellungen ist es ganz verständlich, dass sich Frau Bartolotti nicht erinnern kann, ob und wann sie diesen kleinen Jungen bestellt hat, der in einer Konservenbüchse geliefert und zuerst mit einer Nährlösung übergossen werden will.
Doch behalten möchte sie den Kleinen schon, selbst als sich (recht schnell) herausstellt, dass Konrad und sie ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wie ein siebenjähriger Junge aufzuziehen sei. Und obwohl das Buch bereits vor 45 Jahren erschien, können wir Mütter uns alle Herrn Egons Worte dazu auf unsere Sofakissen und Spruchtücher sticken: „Du musst dich von Grund auf ändern und ordentlicher und mütterlicher und manierlicher werden! Du musst solide werden und darfst nicht mehr so sonderbar gekleidet herumlaufen! Du musst ab jetzt aufräumen und regelmäßig kochen und darauf achten, dass du nur Sachen sagst, die für einen siebenjährigen Jungen gut und nützlich sind! Du musst, du musst, du musst ...“
Aber Frau Bartolotti muss gar nichts und das Nachbarmädchen Kitty muss auch nichts und genau dieser gelebte Widerspruch verhilft diesem lustigen und spannenden Roman zu einem glücklichen Ende.
Konrad erschien 1975
im Oetinger Verlag und wurde von Frantz Wittkamp illustriert. 1982 wurde
der Roman verfilmt und erschien 2006 neu illustriert von Annette
Swoboda. Christine Nöstlinger stand mit diesem Buch 1976 auf der
Nominierungsliste für den Deutschen Jugendbuchpreis, erhielt ihn in dem
Jahr aber nicht.
Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse
Von Christine Nöstlinger, illustriert von Annette Swoboda
Oetinger Verlag, ab 8 Jahren
Zum Vorlesen geeignet
Den Preis (da schon unter dem neuen Namen: Deutscher Jugendliteraturpreis) geholt hat sich im Jahr 1984 der Roman:
von Gudrun Mebs, mit den ebenfalls preisgekrönten Illustrationen von Rotraud Susanne Berner. Die zukünftige Mutter heißt in dieser Geschichte Ulla Fiedler und ist die Sonntagsmama der kleinen namenlosen Ich-Erzählerin, dem Sonntagskind. Das Mädchen lebt in einem Kinderheim und wünscht sich Sonntagseltern, also ein Ehepaar, das die Kleine jeden Sonntag abholt, um mit ihm etwas zu unternehmen: die Schlangen im Zoo besuchen, Auto fahren, Nusstorte essen. Und ihr vielleicht mal einen Glitzerpulli zu schenken. Bisher blieb sie Sonntag für Sonntag im Heim zurück, nur in Gesellschaft des kleinen blöden Karli, der sabbert und stottert. Bis Ulla kam.
Ulla ist unpünktlich und unorganisiert, Raucherin und Kinderbuchautorin, ihre Wohnung ist verkramt und ihr Beziehungsstatus kompliziert. Bereits am dritten Besuchssonntag nutzt die Sonntagsmama die mögliche quality time nicht mehr für Wolkensegelträume mit ihrem Sonntagskind auf der Zotteldecke, sondern zieht sich zum Arbeiten in ihre Büroküche zurück, die Kleine wartet und träumt allein im Nebenzimmer. Und doch sind diese Sonntage die ganze Seligkeit des Kindes, denn Ulla gibt ihm Wärme, Geborgenheit und die Hoffnung auf ein Zuhause. Und natürlich wird alles gut.
Die Stärke des Buches ist
die beschriebene Empfindsamkeit des Kindes, die uns Erwachsene daran
erinnert, wie unendlich lang so eine Woche dauern kann, wenn man
sehnsüchtig auf den Sonntag wartet. Wie hart ein Kind von vermeintlich
kleinen Versäumnissen der Erwachsenen getroffen werden kann. Und wie das
Erfahren von Zuwendung zu zugewandten Kindern führt.
Sonntagskind
Von Gudrun Mebs, illustriert von Rotraud Susanne Berner
Sauerländer Verlag und Carlsen
Ab 8 Jahren
Zum Vorlesen geeignet
Ein ganzes Ensemble Mütter in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen präsentiert uns Sabine Ludwig in ihrem Roman:
Diese Mütter klammern, bevormunden, kümmern sich zu viel, kümmern sich zu wenig oder kümmern sich nur um sich selbst oder die Stiefgeschwister. Deshalb beteiligen sich ihre Kinder an einem Wettbewerb, der die schrecklichste Mutter der Welt ausfindig machen soll. Tatsächlich sind die Mütter wenige Tage später verschwunden und Einzug hält Tante Anna, eine schöne, perfekte Hauszierde, die den Wünschen der Kinder so bedingungslos entgegenkommt, das es diese auf Dauer verstört. Die Mütter befinden sich derweil in einer Mütterverbesserungsanstalt, unter Leitung eines ehemaligen Spielzeugfabrikanten, der selbst mit einer ganz besonderen Mutter gesegnet ist.
Nicht zu überlesen sind die Parallelen zum Science-Fiction-Roman: The Stepford Wives des amerikanischen Autors Ira Lewis (dessen Vater im Übrigen ein Spielwarenhändler war). Und ebenso wie im Original wechseln sich beim Lesen Lachen und Schaudern ab. Doch statt die Frauen wie in Stepford umzubauen werden ersatzweise Robotertanten an die Haushalte gesandt, um die Zeit zu überbrücken, in der die richtigen Mütter umerzogen und verbessert werden. Aus den mechanischen Unvollkommenheiten der Tanten zieht das Buch seinen Humor, aus den emotionalen Auffälligkeiten der Menschen seinen Schrecken.
Sabine Ludwig ist
eine Meisterin des satirischen Kinderbuchs und führt uns vor Augen, was
unsere Kinder längst ahnen – Mütter sind auch nur Menschen. Völlig zu
Recht wurde ihr dafür 2010 der Kinder-Literaturpreis Kalbacher
Klapperschlange überreicht.
Die schrecklichsten Mütter der Welt
Von Sabine Ludwig, Einbandgestaltung von Isabel Kreitz
Dressler und Oetinger Verlag
Ab 10 Jahren
Zum Selberlesen geeignet
Unsere Autorin Diana Johanns hat Bibliothekswissenschaften, Literatur und Geschichte studiert und arbeitet seit 2018 als Schulbibliothekarin in der Schöneberger Sternberg-Grundschule. Die Liebhaberin gedruckter Seiten ist 45 Jahre alt, hat zwei Kinder im Grundschulalter und nur zwei Passionen: Bücher und Schokolade.