05. Feb 2020
„Berlin hat die niedrigste Schulabbrecher-Quote seit vier Jahren.“ Die Berliner Bildungsverwaltung verkündet gute Nachrichten, die bei genauerem Hinsehen keine sind. Im Gegenteil: Der Satz ist eine doppelte Verschleierung.
Berlins Schulsenatorin hat es wirklich nicht leicht. Ständig wähnt sie irgendwer dem Rücktritt nahe, kurz vor der geräuschvollen Kündigung oder dem leisen Abtreten. Die gelernte Erzieherin und studierte Pädagogin kämpft mit dem Lehrermangel, einem Mangel an Schulplätzen und einer Öffentlichkeit, die schnelle Abhilfe erwartet. Ab und zu kommt jemand mit der neuesten Studie um die Ecke und verweist das Schulsystem der Hauptstadt mal wieder auf die hinteren Plätze. Eine Freude ist das sicher nicht.
Freundliches Feedback wird in der Bernhard-Weiß-Straße merkwürdig verzweifelt gefeiert, dieser Eindruck drängte sich jedenfalls auf, als die Bildungsverwaltung am 4. Januar ihren ersten Newsletter des Jahres verschickte. Wo sich sonst ausschließlich Meldungen des Hauses finden, fand sich diesmal – gänzlich unüblich und als einziges Thema – einInterview mit Sandra Scheeres aus der Berliner Zeitung . Wo sonst nach ein paar Zeilen ein Weiterlesen-Link gesetzt wird, folgte hier der gesamte Text. Einstiegsfrage: „Frau Scheeres, wie haben Sie Weihnachten gefeiert?“
Dumm nur, dass das zentrale Versprechen dieses Gesprächs „Jedes Kind bekommt einen Schulplatz“ schon Tage später in Rauch aufging. Der Schulaufsicht in Tempelhof-Schöneberg war es nicht gelungen, 90 schulpflichtige (Flüchtlings-) Kinder unterzubringen. Kein Platz, kein Personal, hieß es aus den angefragten Schulen. Über die dringende Bitte an die Schulleitungen, doch noch Lerngruppen einzurichten, berichtete unter anderem der Tagesspiegel .
Kurz darauf, nur zwei Tage später, eine weitere Erfolgsmeldung: „Trotz wachsender Herausforderungen: Berlin hat die niedrigste Schulabbrecher-Quote seit vier Jahren“. Der Rückgang von 8,6 auf 8,0 Prozent sei bemerkenswert angesichts höherer Inklusionsquoten und der vielen Flüchtlingskinder, hieß es in einer Mitteilung. „Ein gutes Signal im 10. Jahr der Schulstrukturreform.“
Vor 10 Jahren (2009) betrug der Anteil der Schulabbrecher laut dem Bildungsbericht 2010 in Berlin 10,7 Prozent . Die Berliner Bildungsstatistik ermittelte für das Schuljahr 2018/2019 einen Wert von 10.2%, also nur einen halben Prozentpunkt niedriger.
In ihrer Mitteilung verschweigt die Verwaltung eine erst zwei Monate zuvor eingeführte Änderung der Berechnung: In einer dpa-Meldung vom 5. November hieß es: „«Wir sind mit unseren Statistikern im Gespräch, wir werden jetzt die Zahlen vereinheitlichen, weil sie nicht das reale Bild darstellen.» So sollen nach Angaben der Senatsverwaltung künftig Kinder mit geistiger Behinderung und mit dem Förderschwerpunkt Lernen nicht mehr eingerechnet werden. An dem Ziel, die Quote der Schulabgänger ohne Abschluss zu senken, ändere das aber nichts, betonte die Senatorin.“
Interessant dabei sind die teils deutlichen regionalen Unterschiede bei den Schulabschlüssen, wie die Berliner Bildungsstatistik (2018/19) zeigt . Da ist zum einen der Streberbezirk Steglitz-Zehlendorf mit einem Anteil der Schüler ohne Abschluss von 2,5 Prozent. Im Südwesten der Stadt heißt Kooperation Networking, Sozialraum ist der Vorgarten, Lernförderung heißt hier Nachhilfe , Schuldistanz ist der Weg von Papas Auto zur Schultür und Elternarbeit ist, wenn Eltern arbeiten. So lauten jedenfalls die gängigen Vorurteile.
Das Gegenstück zum Südwest-Klischee heißt Neukölln. Bemerkenswert ist hier: Von den 12 Berliner Bezirken gibt es 6, die eine Schulabbrecherquote von über 10 Prozent haben. Neukölln ist mit 9,4 % nicht darunter. Was macht der einstige Arbeiterbezirk mit seinem hohen Migrantenanteil und einer hohen Zahl finanziell armer Menschen besonders gut?
So richtig spannend wird es, wenn man den Anteil der Schüler ohne Abschluss mit den Förderprognosen der Grundschulen vergleicht. Der These folgend, dass ein Scheitern der Bildungskarriere in der frühen Kindheit und spätestens mit Eintritt in die Schule angelegt ist, müssten die Laufbahnprognosen der Grundschulen das abbilden. Der Anteil der Schüler mit „keiner oder sonstiger“ (Wortlaut in der Statistik) Förderprognose müsste also ähnlich hoch sein wie der Anteil der Schüler ohne Abschluss.
So ist es aber nicht.
Der Anteil der Schüler ohne Förderprognose wird in der Berliner Bildungsstatistik 2017/2018 mit 7,6% (männlich) bzw. 7,7% (weiblich) angegeben. Der Anteil der Schüler ohne Schulabschluss beträgt hier 10,2% (inklusive der Förderschüler), das sind insgesamt fast 3000 Jugendliche. Im weiteren Verlauf gehen den weiterführenden Schulen also viel mehr Schüler verloren als die Prognosen am Ende der 6. Klassen das hergeben. Das wirft insgesamt kein gutes Licht auf die Berliner Sekundarschulen.
Auch hier lohnt sich ein Blick in die Zahlen der
Bezirke, die Unterschiede sind gewaltig. In Treptow-Köpenick wurde im
Schuljahr 2017/2018 jedes 6. (sic!) Mädchen (16,8%) und 14,2% der Jungen
ohne Förderprognose aus der Grundschule entlassen, das sind berlinweit
die höchsten Werte. Auf der anderen Seite erhielten in
Friedrichshain-Kreuzberg 99,5% der Mädchen eine Förderprognose für die
Sekundarschule und das Gymnasium, nur 20 Jungen (2%) verließen die
Grundschule ohne Prognose.
Der Anteil der Schüler ohne
Berufsbildungsreife ist in diesem Jahr in Friedrichshain Kreuzberg
12,8%, in Treptow-Köpenick bei 5,1% (ohne Förderschüler).
Die Zahlen sind kaum erklärbar und werfen Fragen auf: Warum ist der Umgang mit den Förderprognosen in Berlin so unterschiedlich? Warum werden die unguten Erwartungen der Grundschulpädagogen weit übertroffen? Was läuft schief in Klasse 7 bis 10?
Auch den Landeselternausschuss treibt diese Frage um. Vorständin Daniela von Hörschelmann hat aus den Schulportraits jeder einzelnen Schule die Zahlen zu den Abschlüssen seit 2014 herausgesucht und miteinander verglichen. Das Gesamtbild zeigt ein Desaster: In der Hälfte der Schulen zeigt die Kurve der Schüler ohne Schulabschluss nach oben, zum Teil deutlich. In rund einem Drittel der Sekundarschulen ist der Anteil der Schulabbrecher in etwa gleich geblieben. Nur in 10 Prozent der Schulen ist es gelungen, die Zahl der Schüler ohne Abschluss zu reduzieren.
Mit ihrer Erklärung zu den Schulabbrecherquoten vom 6. Januar gibt die Bildungsverwaltung kein Nachdenken über diese Fragen zu Protokoll. Die „Erfolgsmeldung“ war eine Reaktion auf einezwei Monate zuvor veröffentlichte Studie der Caritas mit diesem bedrückenden Befund: „Deutschlandweit lag die Quote der Schulabgänger_innen ohne Hauptschulabschluss im Jahr 2017 bei 6,9 Prozent“, steht darin. „Sie war damit einen Prozentpunkt höher als 2015 und lag auf demselben Niveau wie vor zehn Jahren. Bundesweit sind über 52.000 Jugendliche betroffen.“
Die Caritas wertet die Daten der Schulabgänger ohne Abschluss seit 2012 jährlich aus. Eine interaktive Karte zeigt Zahlen zu Ländern, Städten und Kreisen. Einzeln ausgewiesen werden jeweils: die Schulabgänger ohne Abschluss (in Berlin laut dieser Erhebung 11,73% ) , der Anteil der Förderschüler (Berlin 2,3%), die Arbeitslosenquote, Beschäftigte ohne Berufsausbildung, ausländische Schüler (Berlin 15,40%) sowie das Bruttoinlandsprodukt.
Die Unterschiede zwischen den Ländern sind enorm. So hat beispielsweise Hessen eine niedrige Abbrecher-Quote von 5,42% bei einer im Vergleich zu Berlin etwas höheren Förderschulquote (3,41%) und einem leicht niedrigeren Anteil ausländischer Schüler (12,53%).
Die Stadtstaaten unterscheiden sich deutlich. In Hamburg ist die Abbrecherquote mit rund 6% eher niedrig, die prosperierende Metropole hat dabei die höchste Wirtschaftskraft. Bremen hat mit Abstand die wenigsten Förderschüler (0,77%) und den höchsten Ausländeranteil (17,20%) unter den drei Städten, liegt aber bei der Abbrecherquote von 10,43% unter dem Berliner Wert.
Die Voraussetzungen und Ergebnisse sind auch innerhalb der Länder sehr unterschiedlich, und die Caritas macht erst gar nicht den Versuch, die Daten zu verallgemeinern. Auf den politischen Willen komme es an, sagen die Autoren der „Bildungschancen“-Studie. Insgesamt acht Erfolgsfaktoren haben sie identifiziert: Eine treibende Kraft, wobei das nicht unbedingt Politiker sein müssen. Außerdem Kooperation, Sozialraumorientierung, Schulsozialarbeit, Lernförderung, Programme für Schuldistanz, Berufsorientierung und Elternarbeit.
In
den ostdeutschen Bundesländern brechen im Schnitt mehr Jugendliche die
Schule ab als im Westen. Die stetige negative Entwicklung nahm das
Bundeswirtschaftsministerium zum Anlass, die Studie „Analyse und Ursachen für den höheren Anteil von Schulabgängern ohne Abschluss in Ostdeutschland und Entwicklung von Lösungsansätzen“ in Auftrag zu geben, die 2018 veröffentlicht wurde.
Im
Ergebnis mussten die Autoren festhalten: Die allermeisten Faktoren
(Migrationshintergrund, Geschlechterunterschiede, Schulsozialarbeit,
Gesundheitsdaten, frühe Elternschaft, Bildungsstand der Eltern etc)
liefern keine Erklärung für die höheren Schulabbrecherquoten in
Ostdeutschland.
Es gibt jedoch einen engen Zusammenhang zwischen
einem niedrigen Bruttoinlandsprodukt und einer hohen
Schulabbrecherquote. Die ostdeutschen Länder bilden hier jeweils die
„Spitzengruppe“. Doch für strukturschwache Regionen mit hoher
Arbeitslosigkeit und großer Kinderarmut gibt es westdeutsche
Gegenstücke.
Unterschiede finden sich in der Schulstruktur und vor allem in der Unterrichtskultur. Die Studie zitiert die KMK-Statistik von 2016, nach der Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern zu den Ländern mit den höchsten Förderbesuchsquoten zählten. Bei insgesamt hohen Abbrecherquoten verlassen in den ostdeutschen Ländern die meisten Förderschüler die Schule ohne Abschluss.
Der Anteil der Lehrkräfte über 50 Jahre ist in den ostdeutschen Bundesländern deutlich höher als im Westen. Diese „DDR-Sozialisation“ könnte ein Hinweis darauf sein, dass die dortigen eher leistungsorientierten Pädagogen höhere Maßstäbe zur Erlangung eines Schulabschlusses anlegen als westdeutsche Lehrer. Belastbare Forschungsergebnisse gibt es dazu nicht. Die Forscher zitieren aus qualitativen Interviews, die auf unterschiedliche Unterrichtskulturen schließen lassen. Die Rede ist von wenig moderner „theorielastiger“ Wissensvermittlung und von der Rolle der Lehrer als „Faktenvermittler“.
Diese Faktenvermittler sind vergleichsweise sehr erfolgreich.
Die ostdeutschen Bundesländer gehören beim IQB-Bildungstrend in vielen Testbereichen zur Gruppe oberhalb des Durchschnitts. Die regelmäßig stattfindende Erhebung findet im Auftrag der Kultusministerkonferenz statt und soll überprüfen, inwieweit die Bildungsstandards, die von den Ländern beschlossen wurden, auch erreicht werden. Das Institut zur Qualitätsentwickung im Bildungswesen (IQB) in Berlin führt die Studien durch, im Primarbereich in den Fächern Deutsch und Mathematik in der Regel alle fünf Jahre und im Bereich der Sekundarstufe I alternierend in den Fächergruppen Deutsch, Englisch und Französisch einerseits sowie Mathematik, Biologie, Chemie und Physik andererseits alle drei Jahre.
Bildungsstandards
legen fächerspezifisch fest, welche Kompetenzen Kinder und Jugendliche
bis zu einem bestimmten Abschnitt in ihrer Schullaufbahn entwickelt
haben sollen. Unter einer Kompetenz wird dabei die Fähigkeit verstanden,
Wissen und Können in den jeweiligen Fächern zur Lösung von Problemen
anzuwenden. In einem sogenannten Kompetenzstufenmodell sind
unterschiedliche Standards festgelegt. Der einfachste Standard ist der
Mindeststandard.
Das „ Kompetenzstufenmodell zu den
Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss und den Mittleren
Schulabschluss im Fach Deutsch für den Kompetenzbereich Lesen“
beschreibt ein Kompetenzniveau am Ende der Sekundarstufe I, „von dem
angenommen werden kann, dass sich Schülerinnen und Schüler, die dieses
erreichen, bei entsprechender Unterstützung erfolgreich in die
berufliche Erstausbildung integrieren werden.“
Dieses Ziel ist verfehlt, wenn die Schüler nur die unterste Kompetenzstufe erreichen oder darunter bleiben. In der Praxis bedeutet das: Die Jugendlichen finden nur Informationen in einem Text, wenn diese deutlich hervorgehoben sind. Wenn die Sätze kurz genug sind, verstehen sie auch, worum es geht. Im Endeffekt ist die Chance gering, dass die Schüler durch Lesen dazulernen.
Wer so wenig kann, schafft den Hauptschulabschluss nicht – oder doch?
Der Bericht „Bildung in Deutschland 2018“ verknüpft die Schulabbrecherquote mit dem Anteil der Schüler, die beim IQB Bildungstrend im Bereich Lesen maximal den Kompetenzbereich Ia erreichen. Mit einem verwirrenden Befund: In allen ostdeutschen Ländern ist der Anteil der Jugendlichen ohne Schulabschluss am höchsten. Der Westen ist dagegen Spitze beim Verfehlen der Mindeststandards. Die Forscher können sich auf die teils enormen Unterschiede keinen Reim machen, doch für wahrscheinlich halten sie: Wenn bundesweit sechs Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung ohne Abschluss die Schule verlassen, während neun Prozent in Jahrgangsstufe 9 hinter den Mindestanforderungen zurückbleiben, kann ein Teil der Jugendlichen mit Hauptschul- oder höherem Abschluss nicht sinnerfassend lesen.
Wenn Forscher etwas nicht erklären können, dürfen Laien spekulieren. Kann es sein, dass Länder mit miesen Ergebnissen in Vergleichsstudien ihre Abschlussstatistik aufhübschen, indem sie großzügig Zertifikate verteilen? Hessen und Bremen mit eher freundlichen Zahlen in der Caritas-Studie erscheinen plötzlich in einem anderen Licht: Der Anteil ihrer strukturellen Analphabeten ist doppelt so hoch wie die Abbrecherquote. Ähnlich ist es in Baden-Württemberg und im Saarland. Dagegen können Unternehmen, die Abgänger mit einem Schulabschluss aus Sachsen oder Sachsen-Anhalt ausbilden wollen, davon ausgehen, dass diese ein gewisses Maß an Fähigkeiten mitbringen.
Insgesamt gibt es zu allen Statistiken mehr Fragen als Antworten. Der Verweis auf fehlende Untersuchungen, mangelnde Daten und der Ruf nach mehr Forschung ist auffällig.
Die einzige, die hier den Durchblick zu haben scheint, ist Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres. Diese Verve, mit der sie die Zahlen geraderückt, um die „Realität“ abzubilden, das hat was.
Die Antwort auf die Frage irgendeines Interviewers nach ihrem nächsten Sommerurlaub können Interessierte mit Spannung erwarten. Die Bildungsverwaltung wird sie der geneigten Leserschaft prominent präsentieren.
Lesen Sie auch das Interview mit LEA-Vorständin Daniela von Hoerschelmann.
Dieser Beitrag erschien in leicht gekürzter und veränderter Fassung im Blog des Bildungsjournalisten Jan-Martin Wiarda.
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