07. Jul 2022
Aus der Sicht von Sachverständigen für Kinder-, Jugend- und Familienpolitik wird das Aufstiegsversprechen, jedem Kind das Erklettern der Erfolgsleiter durch hochwertige Bildung zu ermöglichen, in Deutschland nicht eingelöst.
Stattdessen sei zu erkennen, dass Armut das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen präge und sich dies auch auf das Bildungssystem auswirke, hieß es übereinstimmend während eines öffentlichen Fachgespräches des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung am Mittwochabend zum Thema „Hochwertige Bildung als nachhaltiges Mittel gegen Armut und soziale Ungleichheit im Sinne der SDGs“.
Seit 2005 sei in Deutschland der Zustand zu beklagen, dass konstant jedes fünfte Kind in Armut aufwächst, sagte Antje Funcke, Senior Expert für Familie und Bildung bei der Bertelsmann Stiftung. 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche seien davon betroffen. „Armut ist für diese Kinder häufig ein Dauerzustand, weil es sehr schwierig ist, dem SGB II-Bezug zu entkommen“, sagte Funke. Besonders betroffen seien Kinder in Alleinerziehenden- oder in Mehr-Kind-Familien.
Seit dem Pisa-Schock im Jahr 2001 sei es aber auch im Bildungssystem kaum gelungen, den engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufzulösen. Stattdessen habe der vor zwei Wochen veröffentlichte Nationale Bildungsbericht erneut konstatiert, „dass dieser Zusammenhang anhaltend stark ausgeprägt ist“. Die Kompetenzunterschiede bei Kindern aus dem höchsten und dem niedrigsten Sozialstatus seien größer geworden, sagte die Expertin der Bertelsmann-Stiftung. Viertklässler aus privilegierten Elternhäusern hätten in Mathematik und Deutsch etwa ein Jahr Leistungsvorsprung vor Kindern und Jugendlichen aus einkommensschwachen Haushalten. Corona werde diese Schere noch weiter aufgehen lassen, sagte Funcke. Das Sprichwort: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ gelte mit Blick auf das Bildungssystem in Deutschland leider eher als der Satz: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“
Amir Sallachi, Jugendexperte beim Team Kinderarmut der Bertelsmann Stiftung und Mitglied im Jugendbeirat der Stadt Krefeld, nannte die Aufklärung der Kinder über ihre Rechte „fundamental“. Das sei eine Grundlage dafür, dass sich Kinder und Jugendliche großangelegt in kommunalen Strukturen engagieren können, befand er. Gerade in der Corona-Pandemie hätten sich bestehende Beteiligungsformate nicht als krisenfest erwiesen. Kinder- und Jugendparlamente, Jugendräte und andere Organisationen hätten keinen Kontakt zu denen gehabt, die sie vertreten sollen. „Gerade in solch einer Krise muss aber die Stimme der jungen Menschen dringend Gehör finden“, betonte Sallachi.
Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal, verwies auf eine Studie von 2018, wonach die Einkommensungleichheit in den höchstentwickelten Industriestaaten seit den 1990er Jahren stetig zugenommen habe, während die „soziale Mobilität“ ins Stocken geraten sei. Im OECD-Durchschnitt benötigte der Studie zufolge ein Mensch für die Entwicklung „von unten in die Mitte der Gesellschaft“ fünf Generationen. Während es in den skandinavischen Staaten „nur“ zwei bis drei Generationen brauche, liege der Wert für Deutschland bei sechs Generationen, also 180 Jahren, sagte Klundt. „Es geht hier nicht darum, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden“, so der Wissenschaftler. Um im Bilde zu bleiben, gehe es eher darum, vom Tellerwäscher zum Koch zu werden.
Aus seiner Sicht beginnt das Problem schon bei der
Kita. Zum einen gebe es nicht genug Plätze. Zum anderen würden aber auch
Familien im unteren Einkommensbereich den höchsten Einkommensanteil von allen
Einkommensgruppen für die Kitakosten aufwenden müssen. Weiter gehe es in der
Schule, wo laut Klundt spätestens mit Beginn der Sekundarstufe die besten
Schüler aus armen Haushalten mit geringem Bildungsniveau abrutschten. Aus
ökonomischer Sicht sei das eine Vergeudung menschlicher Ressourcen, wenn
qualifizierte Menschen entmutigt und nicht weiter gefördert würden. In
Deutschland, so der Experte weiter, gebe es im OECD-Vergleich überproportional
viele Abstiege im Verhältnis zum Bildungsabschluss der eigenen Eltern und
unterproportional viele Aufstiege. Das Bildungssystem verstärke also die
sozialen Unterschiede, sagte Klundt.
aus "Heute im Bundestag" vom 7.7.2022
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