Bürgerrat will Kindergeld für Schulessen kürzen

11. Jun 2024

Quelle: Bundestag

Der Bürgerrat für Ernährung im Wandel will zur Finanzierung eines bundesweit kostenfreien Mittagessens für alle Kinder das Kindergeld kürzen.

Der Bürgerrat für Ernährung im Wandel (20/10300) will zur Finanzierung eines bundesweit kostenfreien Mittagessens für alle Kinder das Kindergeld kürzen. Das machte ein Teilnehmer des Gremiums bei einem Öffentlichen Fachgespräch im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft am Montag deutlich.

Der Vorschlag von Joseph Heiß, der im Bürgerrat in der Arbeitsgruppe zum Thema Schulessen teilgenommen hatte, stieß bei den Experten auf ein geteiltes Echo. Während von Seiten der Wissenschaft die Dringlichkeit eines kostenlosen Mittagessens in Kita und Schulen Konsens war, sprach sich der Deutsche Städte- und Gemeindebund dagegen aus.

Professorin Ulrike Arens-Azevêdo von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und Professor Berthold Koletzko, Ernährungsmediziner am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, wiesen auf internationale Studien aus Skandinavien, den USA und China hin. In Schweden und Finnland gebe es seit Jahrzehnten Gratis-Mittagessen an Bildungseinrichtungen, und dort seien dadurch „positive Effekte auf die Gesellschaft gemessen worden“, sagte Arens-Azevêdo. Die Kinder würden ein besseres gesellschaftliches Klima an der Schule durch gemeinsam eingenommene Speisen erleben. Zudem hätten die Speisen Auswirkungen auf allgemeine Ernährungsgewohnheiten der Kinder und deren Familien. Das unterstrich auch Berthold Koletzko: Schulen leisteten einen Beitrag für die allgemeine Leistungsfähigkeit der Heranwachsenden. Vor allem in Deutschland seien Aufstieg und Gesundheit stark von der sozialen Herkunft anhängig. Wer sich ausgewogen ernähre, der sei nicht nur leistungsfähiger in der Schule, sondern der reduziere auch das Risiko von Übergewicht und Adipositas.

Alexandra Lienig, Projektleiterin der Vernetzungsstelle Schulverpflegung bei der Verbraucherzentrale Thüringen, verwies auf die Erfahrungen ihres Bundeslandes. Dort würden seit 2020 die Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) bei Schulessen gelten, und das habe „in der Fläche zu mehr Qualität bei der Gemeinschaftsverpflegung bei Kindern geführt“. Jedoch sei „die Preisfrage eine große Herausforderung für die Eltern“, sagte sie. Das Essen sei kostenpflichtig, die Bezahlung liege bei den Familien. „Wir brauchen eine Mitfinanzierung durch den Freistaat Thüringen“, sagte Lienig. Die Preise seien in den vergangenen zwei Jahren um 25 Prozent gestiegen.

Stephanie Wunder vom Thinktank Agora Agrar, Leiterin Team nachhaltige Ernährung, plädierte für die Einführung eines komplett kostenfreien Schulmittagessens. Sie machte auf die hohen Folgekosten aufmerksam, die durch falsche Ernährungsmuster im Kinder- und Jugendlichenalter entstünden. „Wir reden von zwei- bis dreistelligen Milliardenbeträgen, die Krankheiten wie Übergewicht und Adipositas verursachen“, sagte Wunder. Die Kosten für eine kostenlose warme Mahlzeit in der Kita und der Schule stellten „eine gute präventive Investition dar“.

Professor Wilhelm Windisch, Experte für Tierernährung an der Technischen Universität München, unterstrich die Notwendigkeit für „eine gesunde und ausgewogenen Ernährung bei Heranwachsenden“. Er verwies auf den hohen Bedarf an Eisen und Omega-3-Fettsäuren bei Kindern und Jugendlichen. Deshalb solle es beim Schulessen auch Fleisch, Fisch und Eierspeisen geben. Auch das sei „eine Frage der Ernährungsgerechtigkeit“. Vor allem in Haushalten mit geringem Einkommen und Bildungsniveau komme es öfter als im Durchschnitt zu Übergewicht und mangelnder Bewegung. Diese Defizite könnten durch ein gemeinsames, kostenloses Schulessen ausgeglichen werden.

Marc Elxnat vom Deutschen Städte- und Gemeindebund (DstGB) verdeutlichte die Notwendigkeit „einer gesundheitsförderlichen Ernährung für alle Kinder, unabhängig von der sozialen Herkunft“, allerdings gebe es für die Vorschläge des Bürgerrates kein Finanzierungskonzept. Der Bürgerrat empfehle zwar Standards für das kostenlose Mittagessen, aber die müssten auch finanzierbar sein. „Es stellt sich die Frage, ob es der richtige Zeitpunkt ist, neue Ansprüche zu schaffen“, so Elxnat. Zumal solle darüber nachgedacht werden, ob die Maßnahme zielgenau sei, weil von dem kostenlosen Mittagessen pauschal alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig von der Einkommenssituation der Eltern, profitierten.

„Die finanzielle Ausstattung ist nicht geklärt, zudem sind schulische Angelegenheiten Sache der Länder“, sagte Manon Struck-Pacyna, Leiterin Öffentlichkeitsarbeit des Lebensmittelverbands Deutschland. Allerdings seien die Bundesländer bislang nicht bereit, den finanziellen Mehraufwand eines kostenlosen Mittagessens an Kitas und Schulen zu übernehmen. Auch der Aufwand, den Bildungseinrichtungen mit der Bereitstellung eines solchen Angebots hätten, sei nirgends berücksichtigt. Schulen hätten Küchen, Personal und Räumlichkeiten bereitzustellen.

Joseph Heiß, Teilnehmer am Bürgerrat, machte deutlich, dass das Thema kostenfreies Schulmittagessen das wichtigste Thema im Bürgerrat gewesen sei. Obwohl bereits „am zweiten Tag der Hinweis kam, das Thema nicht zu behandeln, weil es Sache der Länder ist, ließ uns das Thema nicht los“, sagte Heiß. Deshalb habe sich das Gremium Gedanken dazu gemacht, wie so ein Vorhaben bezahlt werden könnte. Die Bundesregierung habe im Jahr 2022 rund 47 Milliarden Euro an Kindergeld bezahlt, ein deutschlandweites Schulessen würde etwa 5,5 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Aus diesem Grund sollte der Kindergeld-Etat dafür genutzt werden. Ingeborg Simon, ebenfalls Teilnehmerin am Bürgerrat, wies auf den Punkt Lebensmittelverschwendung hin. Sie schlug vor, Schulspeisen, die nicht verwendet worden seien, an die Cateringfirmen zurückzugeben, so dass diese die Reste an Bedürftige, etwa mit Hilfe der Tafeln, abgeben könnten.

Die beiden Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates des Bürgerrates, Professorin Britta Renner, Gesundheitspsychologin an der Universität Konstanz, sowie Professorin Melanie Eva-Maria Speck vom Fachbereich Agrarwissenschaften und Landschaftsarchitektur, Sozialökonomie in Haushalt und Betrieb an der Hochschule Osnabrück, verwiesen ebenfalls auf die Bedeutung von Ernährung. „Essen ist mehr als nur Kalorienzufuhr“, sagte Renner. Menschen würden beim Essen soziale Bindungen aufbauen, und das „begünstigt das gesellschaftliche Klima“, sagte die Psychologin. Professorin Speck erinnerte daran, dass der Bürgerrat als „konsensorientiert und fraktions- und parteiübergreifend“ begriffen werden solle, an dem verschiedene Menschen aus allen Bevölkerungsteilen beteiligt waren. Die Empfehlungen seien im breiten Konsens zustande gekommen, und diese sollten die Adressierten dazu bringen, Vorschläge zu erarbeiten, wie die Empfehlungen umgesetzt werden könnten.

aus "Heute im Bundestag" vom 13.5.2024

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