12. Apr 2022
Das Kommunikationsdesaster und der anschließende Rücktritt der Familienministerin wirft die Debatte um junge Eltern in der Politik um Jahrzehnte zurück.
Zunächst: Die Diskussion um Menschen in Spitzenpositionen, die Sorgearbeit delegieren (müssen) ist keine über Mann oder Frau. Jeder Mensch, der auf Partner oder helfende Angehörige sowie funktionierende Betreuungsstrukturen – wozu auch Kitas, Schulen oder Pflegeheime gehören – angewiesen ist, hat ein ernsthaftes Problem, wenn private und/oder öffentliche Unterstützungssysteme ausfallen. Diesen Ausfall wenigstens zeitweise zu kompensieren, bringt schon normale Berufstätige an ihre Grenzen. Der Klassiker: 30 Tage Urlaub und 3 Monate Schulferien.
Es ist dann auch nicht schwer, sich die Not einer Berufspolitikerin vorzustellen, die eine 7-Tage-Woche mit mindestens 70 Arbeitsstunden reißt, und bei der sämtliche Notstromaggregate nacheinander ausfallen. Der Ehemann ist plötzlich chronisch krank; nicht mit einer sonst üblichen schleichenden Verschlechterung, sondern mit einem höchst akuten Beginn. Schlaganfälle kommen aus dem Nichts und verändern alles. Eine Pandemie rollt außerdem über das Land und Bildungs- und Betreuungseinrichtungen schließen. Vier Kinder im Kita- und Grundschulalter wollen zu Hause bespaßt, beschult und bekocht werden – von einem gesundheitlich angeschlagenen Elternteil.
Anne Spiegel ist Umweltministerin in Rheinland-Pfalz, als ihr Mann 2019 erkrankt. 2020, im Jahr eins der Pandemie, wehrt sie sich nicht gegen die geschäftsführende Führung eines zweiten Ministeriums. 2021 übernimmt sie die Spitzenkandidatur der rheinland-pfälzischen Grünen zur Bundestagswahl. Im gleichen Jahr wird sie Ministerin im Kabinett Scholz.
Die Politikerin nimmt sich also nicht zurück, sondern gibt beruflich Gas und treibt ihre Karriere voran. Es gibt einen berühmten Rheinland-Pfälzer, der ähnlich rücksichtslos mit seiner Familie umgegangen ist: Helmut Kohl, Landesvater und Bundeskanzler, hat seine kranke Frau zu Hause alleine gelassen und seine Söhne vernachlässigt, um in Bonn und der Welt erfolgreich zu sein. Damals hat ihm das niemand vorgeworfen, so selbstverständlich und gesellschaftlich akzeptiert war dieses Verhalten.
Männer haben diesen Politikstil geprägt, daher soll hier die Rede von „männlichen“ Strukturen sein. Was man Anne Spiegel vorwerfen muss ist, dass sie dieses System komplett inhaliert hat und selbst dann nicht in Frage stellt, als zu Hause die Hütte brennt. Es scheint, als hätte sie sich keine Blöße geben wollen, nicht schwach erscheinen. Mit dieser Art Politik zu machen, sind Fehler keine „dornigen Chancen“, sondern eine Niederlage, die es zu vermeiden oder zu vertuschen gilt. Dieser Logik entspringt der Wunsch nach einem „Wording“, das einen nach der Flutkatastrophe im Ahrtal als zuständige Ministerin aktiv und kompetent aussehen lässt.
Mit Gegenbewegungen zu einer männlichen Politik, also einer „weiblichen“, wäre der Rücktritt und die nun benannte Erschöpfung der Familie vermeidbar gewesen.
Familien, vor allem jene mit mehreren kleinen Kindern, sind fragile Gemeinschaften. Sie zu schützen ist Aufgabe des Staates bzw derer, die politische Verantwortung tragen. Das System hat in diesem Punkt auf mehreren Ebenen versagt.
Die Grünen haben eine Spitzenkandidatin erkoren und sich mit einem unklaren „Ich schaff das schon“ zufriedengegeben. Weibliche Politik wäre gewesen, mit jedem Karriereschritt abzuklären, wie die derzeitige Familiensituation ist und welche Unterstützung bereitgestellt werden muss. Wenn die notwendige Carearbeit nicht sichergestellt werden kann (beispielsweise wegen Corona kein Personal verfügbar), muss der berufliche Aufstieg ausgesetzt werden. Das gilt selbstverständlich für Männer und Frauen gleichermaßen.
Gleich zwei Kabinette haben die Überforderung ihrer Ministerkollegin entweder übersehen oder ignoriert. Diesem schrecklichen menschlichen Versagen kann man strukturell entgegenwirken durch ein Recht auf Jobsharing. Wenn Ministerämter mit zwei Personen besetzt werden könnten, wäre die Verantwortung auf verschiedene Schultern verteilt und flexibel verteilbar – eine Riesenchance für alle, die Carearbeit erledigen und mal mehr und mal weniger zeitliche Ressourcen brauchen. Damit verbunden wäre ein kultureller Wandel hin zu Teamstrukturen und transparenter Kommunikation, beides ist im derzeitigen politischen Betrieb wenig zu finden.
Anne Spiegel hat nichts davon angestoßen oder auch nur angedeutet, dass ihr ein solcher Kulturwandel wichtig ist. Dem Familienbild der 50er Jahre sind wir mit ihrem unglücklichen Abgang wieder ein Stück näher gekommen. Die nächste Ministerin muss dringend kräftig gegensteuern. Sonst werden junge Eltern in Spitzenpositionen weiter unverstanden, überfordert und ignoriert an ihren Aufgaben scheitern.
In diesem Bereich geht es um Familien und die Welt um sie herum. Wir verfolgen, so weit uns das möglich ist, familienpolitische Debatten.
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