07. Okt 2020
Seit sieben Monaten sind die Schulen in Ecuador geschlossen. Während die Kinder in ländlichen Regionen abgehängt werden, genießen wohlhabende Städter modernen Fernunterricht. Ein Bericht über virtuelle Schule in einem Land, das sozial tief gespalten ist.
Der Bildschirm des Handys, das mir René reicht, ist vielfach gebrochen. „Dies hier sind meine Kinder, der Junge ist sechs Jahre alt, das Mädchen fünfzehn!“. Schemenhaft erkenne ich Evelin und Cristopher, die am Esstisch der Familie ihre Schulaufgaben erledigen. Beide in Schuluniform, wie ihre Schule es verlangt, vor sich Schreibpapier und Bleistift. Wenn Vater und Mutter mit ihren Mobiltelefonen zu Hause sind, können die Kinder am virtuellen Unterricht teilnehmen - eine Stunde täglich für den Sechsjährigen, zwei bis drei Schulstunden für die Fünfzehnjährige. Zusätzlich erhalten die beiden Aufgaben über WhatsApp. Sie schreiben, fotografieren, schicken das Fotografierte der Lehrerin zurück, ebenso wie ihre jeweils rund 40 Klassenkameraden an einer staatlichen Schule im Süden Quitos, der Hauptstadt Ecuadors.
Seit dem 13. März dieses Jahres sind alle Schulen in Ecuador geschlossen. Das neue Schuljahr begann im September so, wie das alte im Juni geendet hatte: digital. „Wir lernen gemeinsam zu Hause“ - so lautet die Vorgabe des Schulministeriums, und die Zeitung „El Comercio“ veröffentlicht auf ihrer Titelseite Bilder von zufriedenen hellhäutigen Kindern, die vor dem Bildschirm Schulsport betreiben. Die Realität, vor allem in den ländlichen Regionen, sieht anders aus: Nur etwas über die Hälfte der ecuadorianischen Haushalte verfügt über einen Computer; weniger als 50% der Familien haben zu Hause einen Internetzugang, auf dem Land sind es kaum mehr als 20% der Lehrer und Schüler. Einem aktuellen Bericht des Fernsehsenders Teleamazonas zufolge haben 43% der Kinder in den ländlichen Gebieten seit sieben Monaten de facto keinen Schulunterricht.
Während sich die Wohlhabenden Ecuadors, deren Kinder auf gut ausgestattete Privatschulen gehen, in ihrer virtuellen Welt eingerichtet haben, ist in weiten Regionen des Landes in den vergangenen Monaten ein paralleles Schuluniversum entstanden, das sich gefühlt täglich weiter ausdehnt – und in dem sich die Menschen ganz unterschiedlich einrichten:
René, der als Wachmann bei einer privaten Sicherheitsfirma arbeitet, erzählt von Kindern seiner Verwandten auf dem Land: "Sie gehen vormittags in den nächsten Ort, da haben sie Internet und Unterricht; nachmittags helfen sie dann in der Landwirtschaft“. Der Leiter eines Sozialzentrums in Portoviejo an der Küste weiß von Nonnen, die eine Art informeller Schule betreiben. Engagierte Lehrer in ländlichen Gemeinden gehen von Haus zu Haus, um ihre Schüler zu betreuen; man hört von einer Polizeistation, die zum Lernzentrum wird, und aus Monte Sinai, einem Armenviertel im Norden Guayaquils, gibt es fast täglich neue Bilder und Berichte über Zwergschulen in privaten Höfen und Wohnzimmern. Fünf Dollar monatlich bezahlt man dem Nachbarn, um ab und zu sein Internet nutzen zu können - schon das ist zu viel für die meisten Familien. Inzwischen sprechen manche Beobachter offen von einer Bildungskatastrophe, die eine ganze Generation akademisch und wirtschaftlich um ihre Zukunft bringen wird.
Gleichzeitig sorgt eine Mischung aus Panik und Phlegma dafür, dass in der Bevölkerung gemischte Gefühle vorherrschen bei dem Gedanken an eine Rückkehr in die Schule: „Mein kleiner Bruder hatte einmal eine Lungenentzündung, wir befürchten, dass er sich in der Schule mit Corona anstecken könnte“, sagt Evelin. „Wir würden die Schulen ja öffnen, aber niemand möchte das - die Kinder haben sich an die Situation gewöhnt, die Lehrer sind zurückhaltend, und die Eltern haben Angst“ heißt es von Behördenseite in der ländlich geprägten Provinz Santo Domingo.
„In meiner Stadt wird es bis zum Ende des Jahres keinen Präsenzunterricht mehr geben“, kündigte Cynthia Viteri, die Bürgermeisterin der Hafenstadt Guayaquil, der zweitgrößten Stadt des Landes im August an - und ließ im September sieben Schulen schließen, die ihre Schüler zu Prüfungen persönlich einbestellt hatten. Es wirkt wie Ironie, dass nun dieselbe Bürgermeisterin 300 Lehrer zur Betreuung der informellen Schulen in Monte Sinai anstellen möchte – ohne damit offiziell zur Präsenzschule zurückzukehren, versteht sich.
Benita Schauer
7. Oktober 2020
Unsere Autorin lebt mit ihrem Mann und drei Schulkindern in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito. Als Vorstandsmitglied und Ehrenpräsidentin der wohltätigen "Damas Alamanas" sammelt sie Spenden, um den Ärmsten Nahrungsmittelhilfe zukommen zu lassen. Lesen Sie auch ihren aktuellen Bericht und einen Spendenaufruf.
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